Draußen

Älter werden für Anfänger.

22. Juni 2023
Hund Autoverkehr

Das Zusammenleben mit dem Hund bringt im Menschen die besten Seiten hervor. Wenn man Glück hat. Im Falle einer Pechinvasion können es allerdings auch die schlechtesten sein. Mit Blick auf ein gestriges Ereignis kann ich das aus eigener Anschauung berichten. Ich habe mich benommen wie eine offene Hose, ich war laut, unangenehm, unflätig, eskalierend, verständnislos und nicht damenhaft. Und ich bereue es nicht im Geringsten. Das alles kam so:

Ich ging mit dem Tier in der Früh des Wegs, wobei sich bei „Früh“ die Assoziationen von Vogelgezwitscher und Morgenkühle aufdrängen könnten. Doch hier in der Stadt findet man Kühle bestenfalls in der finstersten Ecke eines Altbaukellers, überall anders wird man dank reichlich Asphalt und Beton mit Ober- und Unterhitze gegart und das schon am Morgen. Das Tier findet Wärme unmöglich, daran ändert auch seine mediterrane Herkunft nichts. Wir fahren aus der Stadt hinaus und schlagen uns in die Büsche, wann immer es geht, doch einfache Toilettengänge finden unabdingbar in der Nähe der heimischen Wohnung statt. Die halbstündige Morgenrunde war fast absolviert und das Tier bereits ein hechelndes. Wir gaben dennoch unser Bestes, um wieder in die verbunkerten Räume zu gelangen.

Der Weg, den wir gehen, ist eine kleine Allee für Fußgänger. Sie verläuft in der Mitte einer vierspurigen Straße und ist eine der kleinen Oasen, in denen Bäume tapfer gegen städtische Luftschadstoffe anphotosynthesen. Fußgänger sollen hier die Illusion gewinnen, sie seien in der Stadt willkommen, es gibt sogar Bänke, auf denen gelegentlich Menschen sitzen und sich vom Verkehr umtosen lassen. Der lange Weg wird von einer schmalen Abbiegespur durchschnitten, durch die Fahrzeuge einen U-Turn machen und auf die andere Seite gelangen können. Die meisten Autos fahren hier langsam, sie müssen ohnehin oft halten, bevor sie sich in den Verkehr in die neue Richtung einfädeln können. Außerdem wird irrsinnigerweise gern in der Abbiegekurve geparkt, was die Straße schmaler macht. Dennoch muss man als Fußgänger beim Überqueren gründlich Obacht geben – allzu oft wird nicht geblinkt und man sieht sich plötzlich mitten auf der Straße mit einem abbiegenden Wagen konfrontiert. Mir ist das Nichtblinken nicht nur als Fußgänger ein Rätsel, schließlich gibt es keine eigene Abbiegespur und es wird mitten im laufenden Verkehr plötzlich abrupt heruntergebremst und abgebogen. In jedem Fall kenne ich diese Stelle sehr gut und versäume nie, gründlich über meine Schulter zu schauen, bevor wir die Straße betreten. Da ich nicht hellsehen kann, gehe ich grundsätzlich nicht los, wenn sich ein Auto bereits in der Nähe befindet, ich kenne ja meine Nichtblinker und Spontanabbieger. An diesem Tag ist da aber nichts, weder ein blinkendes noch ein nichtblinkendes Auto. Wir gehen los. Paninis Zunge nähert sich bereits dem Asphalt und wir schlunzen über die Straße. Die ist etwa 10 Meter breit, wir brauchen vielleicht 8 bis 10 Sekunden zum Überqueren. Wir haben es fast geschafft, noch etwa drei Schritte trennen uns von der Fortsetzung des Weges, als sich ein Auto an uns vorbeidrängt und energisch hupt.

In Sekundenbruchteilen wandelt sich meine Fassungslosigkeit in Wut. Ein Zorn, der eine Vorgeschichte hat – schon oft drückten sich große Fahrzeuge auf dem Zebrastreifen an uns vorbei, zu ungeduldig, um abzuwarten, bis wir halbwegs von der Straße sind. Es gibt Fußgängerampeln, an denen ich Panini trage, weil sie bereits rot werden, wenn wir noch im ersten Drittel der Strecke sind und ich Angst habe, dass wir sonst zermalmt werden. Ich habe keine Ahnung, was Menschen mit alten Hunden machen, die 30 Kilo wiegen. Und noch weniger kann ich mir vorstellen, wie ein Mensch mit Rollator über diese Straße kommen soll. All das trage ich im Gepäck, als das Auto uns von der Straße herunterhupen will. Wie sagt man heute so schön: Es triggert mich und ich flippe aus. Im ersten Moment weiß ich nicht, um welches Fahrzeug es sich überhaupt handelt, ich fange sofort an zu brüllen und schreie dem Auto das A-Wort hinterher. Ich verfüge über eine sehr laute Stimme, mit der ich mühelos mehrere Blocks überbrücken kann. Meine volle Lautstärke brauche ich praktisch nie. Hier ist sie mal nützlich. Erst jetzt sehe ich, dass es ein Golf war, der an uns vorbeigeschossen war. Der Fahrer ist so verblüfft von meiner Reaktion, dass er den Wagen mitten auf der Straße anhält und aussteigt. Es ist eine Frau Mitte Vierzig. Das alles könnte mich beruhigen – kein aufgemotzter Mercedes mit einem Frauenverachter, der mir den Mittelfinger zeigt (hatte ich hier schon), kein SUV mit einem Bankertyp, der extra Gas gibt, damit wir schnell von der Straße springen (hatte ich hier schon) – nein, eine stinknormale Frau mit einem stinknormalen Auto findet es total angemessen, eine stinknormale Frau, die mit einem alten Hund bei 29 Grad über die Straße geht, wegzuhupen. An einer vollkommen alternativlosen Stelle, die dafür vorgesehen ist, dass hier Fußgänger kreuzen. Das beruhigt mich alles keineswegs.

Ich bin wütend. Ich hätte um Verständnis werben können, sie darauf hinweisen können, dass sie hier auf Fußgänger achten muss. „Sie müssen hier vom Gas gehen“, hätte ich sagen können. „Hier gehen oft Fußgänger und mit dem alten Hund kann ich nicht schneller. Außerdem blinken Sie doch bitte, damit ich eine Chance habe, Sie frühzeitig zu sehen!“ Aber dazu kommt es nicht, weil ich zu wütend bin. Die Frau starrt mich an und sagt „Das ist hier eine Straße!“. Und ich brülle: „Und das ist hier ein Weg, der hier durchläuft! Der Hund ist alt, der kann nicht schneller!“ „Dann gehen Sie halt woanders!“ sagt die Frau und noch einmal: „Das ist hier eine Straße!“ Als wären Straßen nur für diejenigen gemacht, die zu schnell fahren. Dann steigt sie wieder ein und fährt weg. Ich brülle ihr noch hinterher, dass das ja wohl das allerletzte sei, dabei ist das natürlich das allerletzte, was man in so einer Situation brüllen sollte. Weil es so dämlich ist und so gar nichts bringt. Ich blicke die Straße entlang und sehe auf einem Balkon ein Pärchen beim Frühstück sitzen, offenbar haben sie die Szene beobachtet und sie sehen mich an, als wäre ich eine Schauspielerin auf einer Bühne und sie die geneigten Zuschauer in Rang 1. (Auto zur Seite ab). Applaus bleibt verständlicherweise aus, das Stück war einfach zu schlecht geschrieben. Gute Dialoge sind anders. Das Brötchen, sonst immer schnell beunruhigt, wenn ich beunruhigt bin, ist mit Hecheln beschäftigt und will zum Wassernapf.

War mein Gebrüll unverhältnismäßig? Rational betrachtet bestimmt. Aber gestern war der Tag, an dem ich mich gefragt habe, was das für eine Welt ist, in der man als mittelalter Mensch mit einem alten Hund von der Straße gehupt wird. Obwohl man nichts Falsches getan hat, überhaupt nichts getan hat, außer einfach nur da zu sein. Vielleicht hatte die Frau im Golf einen schlechten Tag, das pflege ich mir sonst immer zu sagen. Aber wie schlecht muss ein Tag sein, an dem man es schon morgens für notwendig hält, andere zu maßregeln? Denn wir haben das Auto ja nicht einmal behindert, es fuhr mühelos an uns vorbei. Alte, langsame Menschen haben keinen Platz in dieser Gesellschaft, sie sollen gefälligst Platz machen und nicht rumnerven. Das ist es, was mich so getriggert hat. Bevor Panini kam, wusste ich nichts von Fußgängerampeln. Entweder ich saß am Schreibtisch oder ich bin über die Straße gejoggt. Mit Panini weiß ich erst, wie es ist, langsam und alt zu sein. Schatten zu brauchen. Treppen nicht gehen zu können. Sich nicht mehr gut wehren zu können. Überfordert zu sein. Schlecht hören zu können. Ich sehe die Welt mit ihren Augen. Eine Welt, in der nur Geschwindigkeit zählt. Leider hilft dagegen nicht einmal die lauteste Stimme.

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9 Kommentare

  • Antworten Alexandra 22. Juni 2023 um 20:23

    Oh, liebe Heidi. Da mein Hund und Panini die gleiche Altersklasse sind und er nun auch schon mit Ataxie nach Bandscheibenvorfall geschlagen ist, kann ich Euch so gut verstehen. Seit 4 Wochen hat er einen Hunderolli, seither ist interessanterweise das Verständnis der anderen Verkehrsteilnehmern exponentiell gestiegen. Orthopädische Hilfsmittel helfen offenbar auch dem menschlichen Verständnis. 🤷🏻‍♀️

    • Antworten Heidi 22. Juni 2023 um 20:29

      Da bin ich froh, das zu hören! Es gibt ja auch immer ein paar ganz Schlaue, die Hunderollis für den Untergang des Abendlandes halten. Ich habe auch schon mal über einen nachgedacht, wenn Paninis Hinterhand noch schwächer werden sollte, aber einstweilen setzen wir noch auf Physio. Alles Gute für euch!

  • Antworten Kim 22. Juni 2023 um 22:04

    Ich finde es wirklich schlimm, wie Rücksichtslos die Menschen sind. Vor allem in der Großstadt. Ich habe auch so einen Langsam-Geher, kann Dir also voll nachfühlen.
    Was mich in Deiner Situation aber richtig triggert, ist das Hupen! Mein Hund ist sooooo ängstlich und schreckt bei jeder Kleinigkeit zusammen. Wenn uns da einer Anhupen würde, wäre es bei mir auch gelaufen und ich würde ausfallend werden.
    Echt schade, dass die Leute nicht einfach ein bisschen mehr Nachdenken oder vielleicht auch einfach mal ein, zwei Sekunden mehr Geduld haben…

    • Antworten Heidi 22. Juni 2023 um 22:08

      Zum Glück hört Panini inzwischen schlecht (in diesem Fall), aber etwas zusammengezuckt ist sie trotzdem.

  • Antworten Margret 22. Juni 2023 um 22:37

    Was hatte diese Dame denn bitte genommen? Ich neige ja meist auch erst mal zu drölfzig Entschuldigen für andere Leute – aber hier hätte ich wohl auch meine Kinderstube vergessen.

  • Antworten Alexandra 23. Juni 2023 um 8:46

    Ich finde überhaupt nicht, dass Du überreagiert hast. Ich hätte mindestens genauso reagiert 😤. Und manchmal muss die Wut auch einfach mal raus.

  • Antworten Annette Holly 23. Juni 2023 um 16:04

    Die Geschichte hätte ja auch so weitergehen önnen: Die Frau hält, steigt aus und sagt: „Ach Du jeh, ich habe Sie und Ihren Hund wohl erschreckt? Das tut mir echt leid.“ Diese Chance hat sie nicht genutzt.
    Fluchen ist manchmal einfach angebracht!

  • Antworten Sol 24. Juni 2023 um 3:54

    Ach, wie gut, dass es mir nicht allein so geht!
    Und nee, Deine Reaktion halte ich für absolut angemessen!
    Ich habe zufällig so einen älteren 35kg- Langsamgeher an der Leine.
    Und wenn ich angehupt werde (wobei mir egal ist, ob es Autos oder nervös klingelnde RadfahrerInnen sind!) mutiere zur „Bitch“!
    Als Gesangstrainerein verfüge auch ich über einen guten Resonanzraum, den ich VOLL ausschöpfe, und mir ist es egal, wann, wer, wo es hört.
    Und dann schicke ich noch hinterher, ich könne auch anders, nämlich noch einen Gang langsamer.
    Das tun wir dann auch genüßlich; bisher hat sich noch niemand getraut, aus dem Auto zu springen, das bekäme ihm aber auch nicht gut.
    Weder ich, noch mein sehr großer Hund würden es dulden.
    Zudem:
    frau sollte mal Männer beobachten, die mit ihrem Hund auf der Straße von Autos etc. gescheucht werden. Diese brüllen mit einem Selbstverständnis die gröbsten Beleidigungen hinterher,
    OHNE sich eine schlechtes Gewissen zu machen.
    Von denen habe ich gelernt ;-)).
    Also liebe Ladys, weiter so, raus mit der Wut, sonst merken diese Leute nichtmal, wie unsozial sie sich verhalten.

    • Antworten Alexandra 25. Juni 2023 um 10:56

      👏👏👏👏👏👏👏

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