Draußen

Das Tier und die Geduld.

28. Januar 2023

“Du bist ein Feinchen”, sagt Frau H. immer zu Panini. Frau H. gehört zu Paninis medizinisch-therapeutischen Team, das aus einer unübersichtlichen Menge an Personen besteht. Sie ist die Spezialistin für Osteopathie. “Du bist ein Feinchen.” Es klingt immer großartig, wenn sie das sagt, denn Frau H. stammt aus den Niederlanden und das verleiht dem Wort noch mehr Charme, als ihm ohnehin schon innewohnt. Und es stimmt ja auch. Das Tier ist zweifelsohne ein Feinchen. Zudem erscheint es mir ungeheuer nützlich, aus einer Eigenschaft mithilfe der Nachsilbe “chen” eine Bezeichnung zu machen. Ich praktiziere das oft. So ist das Tier wahlweise ein Gierchen, wenn es ein Leckerchen allzu schnell schnappen will, ein Liebchen, wenn es den Kopf auf mein Bein legt, ein Schlimmchen, wenn es mich durch nervtötendes Herumtapsen und Stubsen von der Arbeit abhalten will und ein Süßchen ist es im Grunde immer. Auch als Rumstehchen, Röchelchen und Schnüffelchen macht das Brötchen (haha!) auf sich aufmerksam.

Allem voran aber ist mein Hund ein Sturchen. Das war sie zwar schon immer, aber inzwischen und im Alter hat sie diese Eigenschaft bis zur Meisterschaft perfektioniert. Wenn Panini irgendwo nicht hinwill, wird sie etwa so mobil wie eine ägyptische Pyramide. Mit nur 18 Kilo und fehlender Muskelkraft in den Gliedmaßen ist sie dennoch in der Lage, einen Widerstand zu leisten, der sich mit den Gesetzen der Physik kaum noch erklären lässt. Seit jeher dem Dödeln in Leidenschaft verbunden, reizt sie heute alle Möglichkeiten des Verzögerns, Innehaltens, Meditierens und Forschens aus. In diesem Winter trage ich mehrere Jacken übereinander, um der kriechenden Kälte, die mich beim nutzlosen Herumstehen heimsucht, zu entgehen. Ich habe mir vor geraumer Zeit vorgenommen, den Hund nur dann an der Leine zu ziehen, wenn es wirklich gar nicht anders geht, da es ihren fragilen Bewegungsapparat mit Blockaden an Rücken und Halswirbelsäule zurücklässt. Ich füge gleichwohl schuldbewusst an, dass auch mir manchmal die Nerven durchgehen und ich den Hund doch kurz hinter mir herziehe. Grundsätzlich aber passe ich mich ihrem Tempo, ihrem Wohlbefinden und ihrer Tagesform an, wie ich es schon seit 8 Jahren tue. Auch wenn ich manchmal verblüfft bin, wie lange und schnell mein Hund traben kann, wenn er etwa ein wichtiges Geschäft erledigen muss, aber naheliegende Gelegenheiten dazu nicht nutzen möchte. Oder wie sie hüpfen kann, wenn es an die geliebte Leckerchensuche im Garten geht. Wenn sie aber nicht will, geht es nur sehr sehr langsam. Rufen und locken ist nahezu zwecklos, zumal ihr Gehör deutlich nachgelassen hat. Das Sturchen muss erst fertig schnüffeln oder abwarten, ob der Mann mit der Einkaufstasche in der Ferne rechts abbiegt.

Am liebsten geht das Sturchen dahin, wo ich nicht hinmöchte. Vor geraumer Zeit verwandelte ein Eisregen alle horizontalen Flächen der Stadt in eine gefährliche Rutschfläche und das für viele Stunden. Da das Tier leider nicht zu überreden ist, die Toilette der Wohnung zu nutzen, obwohl ich mir das gelegentlich schon gewünscht hätte, musste ich irgendwie einen Weg finden, wie Panini pieseln kann, ohne dass wir uns beide den Hals oder anderes brechen. Wir schafften es bei äußerster Vorsicht auf eine nahegelegene Wiese. Der angrenzende Weg war vollkommen unbenutzbar, doch die Wiese mit ihrer eher “hochflorigen” Oberfläche war mit etwas Mühe halbwegs sicher zu beschreiten. Üblicherweise steuert Panini gern auf diese Wiese, während ich lieber den Weg benutzen möchte. An diesem Tag war es (natürlich) umgekehrt. Das Tier schien nichts so attraktiv zu finden, wie die Eisfläche des Weges, obwohl ich sie ihr zu Demonstrationszwecken kurz zeigte. Ziehen konnte ich sie natürlich nicht, da wir dann beide rutschten. “Liebes Tier!” sagte ich also zu ihr, “du kannst hier nicht laufen, hier ist es sehr sehr glatt. Entweder du brichst dir etwas, dann kommst du in die Klinik, die du nicht magst und wirst operiert. Dann kannst du monatelang keine Leckerchen im Garten suchen. Oder aber ich breche mir was, dann kann ich dich nicht in den 3. Stock tragen und du kommst ins Tierheim.” (Ich habe extra etwas übertrieben, natürlich würde sie niemals ins Tierheim kommen, aber diese Notlüge habe ich mir aus taktischen Gründen erlaubt). Das Tier sah mich an, dachte kurz nach und steuerte weiter auf den Weg zu. Nur mit äußerst barschem Ton (“Kommstdu hierher!”) konnte ich sie dazu bringen, mir auf die Wiese zu folgen und schließlich auch ihr Geschäft zu erledigen. Wir stolperten zurück und sie unternahm weitere Versuche, als Kati Witt der Hundewelt grazil auf das Eis zu schweben. Ich versuchte derweil, uns beide am Fallen zu hindern. “Vorsicht, da ist ein großer Hundehaufen!” rief ich und sah gleich darauf erleichtert, dass der Hund einen Zentimeter daran vorbei steuerte. Leider hatte ich nicht bemerkt, dass es sich um eine Art Doppelwumms handelte und ich selbst bereits mitten in seinem etwa hausgroßen ersten Teil stand. Auf Eis und Hundeexkrementen rutschend balancierte ich nach Hause, ein ebenso irritiertes wie neugieriges Sturchen zog nun mich dabei hinter sich her. Es sind diese Momente, die die Hundehaltung so bemerkenswert machen.

Mit seinem Hang zum Meditativen und zu eigenwilligen Tempowechseln ist das Sturchen aber auch eine echte Zen-Übung und es sorgt für Achtsamkeit in Bezug auf die oft seltsame Umwelt in der Stadt. So kann ich es nur empfehlen, einmal auf eine grüne Fußgängerampel zuzugehen, wissend, dass man mit einer kleinen Tempoverschärfung mühelos die Straße überqueren könnte, und dann, ganz kurz bevor man noch bei Grün die Straße betreten könnte, einfach stehenzubleiben. Es ist nervenzerfetzend. Aber genau das passiert mit dem Sturchen. Früher hätte ich gesagt: “Auf komm, das schaffen wir noch!” und wir hätten die Straße überquert. Heute mache ich das nicht mehr, oder nur noch selten. Panini soll nicht in einer Welt leben, die zu schnell ist für sie. Die sie immer nur antreibt. Es ist ja fast nie wirklich wichtig, ob man diese oder die nächste Grünphase nutzt. Dann warten wir eben. Für mich ist das nicht immer leicht, über Jahrzehnte eingeübte Reflexe lassen sich schwer abschalten. “Es ist Grün, das schaffen wir noch!”. Wer bleibt schon gern unnötig stehen, wenn es regnet, kalt ist und der nächste Termin drängelt? Ich übe das jetzt jeden Tag und muss zugeben, dass ich die Zwangsentschleunigung, bei aller Ungeduld, oft gar nicht so schlecht finde. Weniger hilfreich sind hingegen die Fußgängerampeln, die grundsätzlich kurz nach dem Betreten der Straße auf Rot schalten und es einem langsamen Menschen oder Tier praktisch unmöglich machen, die Straße zu überqueren. In unserer Nähe befindet sich eine solche Ampel und ein Mensch mit Rollator kommt im Grunde nur mithilfe eines Schülerlotsen-Einsatzes über die Straße, die Grünphase ist grotesk kurz. Wer programmiert sowas? Lädt man Usain Bolt ein, um seine Querungsgeschwindigkeit zu messen, damit sie Maßstab der Ampelschaltungen werden kann? Mehr als einmal habe ich das Sturchen hier mitten auf der Straße vom Asphalt gepflückt, aus Sorge, einer der hier üblicherweise zum Einkaufen genutzten Leopard 2-Kampfpanzer würde uns überrollen, wenn deren Signal auf Grün spränge. Eine Welt, in der ein älterer Hund keinen Platz hat, kann auch für ältere Menschen nur gefährlich sein. Erstaunlich, dass das Leute, die binnen eines Wimpernschlags selbst ältere Menschen sein werden, nicht verstehen.

Besonders perfide wird es am Zebrastreifen. Einen solchen begehen wir täglich und es ist bemerkenswert, wie viele reich ausgestattete Fahrzeuge mit geistig verarmten Fahrzeuglenkern sich mit aufheulendem Motor buchstäblich an uns vorbeiquetschen, noch bevor wir das rettende Ufer erreichen können. Sobald die Straße auf Parklückenbreite frei zu sein scheint, wird gefahren, auch wenn sich Mensch und Hund noch auf der Straße befinden. Drei Sekunden Zeitersparnis sind entscheidend – wie viele herrliche, gewinnbringende Börsentransaktionen könnte man in dieser Zeit tätigen! Mit der Geduld, so scheint es, haben es viele Menschen nicht so. Ein Sturchen an der Leine interessiert das alles nicht. Und obwohl Panini mich manchmal mit ihrer Sturheit an den Rand der Verzweiflung bringt, so ist das doch am Ende nur ein weiterer Grund, sie zu lieben.

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3 Comments

  • Reply Elli 29. Januar 2023 at 10:05

    Oh so ein Sturchen hab ich auch. Eine gute Übung in Gelassenheit und Geduld.
    Schwierig wird es, wenn die Straße gerade einmal kurz frei geworden ist und es mit dem schnellen Überqueren nicht klappt, weil Madam sich plötzlich mitten auf der Straße hinsetzt und ausgiebig kratzen oder schütteln muss. Dann muss das böse Frauchen den sturen Hund hinter sich her ziehen, um ihn vor den heran brausenden Lkws zu retten.

  • Reply Weib Yvonne 29. Januar 2023 at 11:55

    Es ist so schön, von Euch zu lesen! Ich fühle meinen Alltag mit eigenen und Betreuungshunden sehr gut beschrieben, vielen Dank, Heidi, für immer wieder amüsante Lektüre! <3 Alles Liebe Euch beiden, Yvonne

  • Reply Bornfeld 17. Februar 2023 at 22:46

    Ich freue mich jedesmal, eine neue, kleine Geschichte von Euch zu lesen.
    Meine inzwischen neunjährige Emma (Labradöse) wird auch zur Trödelemma und lehrt mich, Geduld zu haben 🙂

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