Das Tier ist vielseitig interessiert. Neben seinen zahlreichen Outdoor-Aktivitäten kann es sich besonders für Innenarchitektur begeistern. So nimmt es liebend gern verschiedene Wohnstile und Raumnutzungskonzepte in Augenschein und testet Teppiche, Laminat oder Fliesen auf olfaktorische Aspekte, Zungengängigkeit und Krümelversinkhöhe. Kurz: Es besucht gern die Nachbarn. Insbesondere mit einer unserer Nachbarinnen ist deshalb eine intensive Freundschaft entstanden. Frau B., eine große und eigensinnige Dame in den 80ern, hatte früher selbst verschiedenen Katzen und einem Kaninchen ein Zuhause gegeben, war jedoch seit geraumer Zeit zu ihrem Bedauern ohne Tier im Haushalt. Auch ihr Ehemann, der nach ihren Angaben früher „ein Mann wie ein Bär“ gewesen sei, konnte diese Lücke nicht füllen. Vor etwa fünf Jahren war Herr B. unweit unseres Hauses plötzlich gestürzt und hatte sich beide Arme kompliziert gebrochen. Der Unfall war der Beginn eines Leidensweges, der über mehrere Krankenhäuser und Altenheime sowie eine Demenzdiagnose schließlich in ein Pflegeheim führte, in dem er seither lebt.
Für das Ehepaar B. kam das alles vollkommen überraschend – eigentlich war geplant, dass der fünf Jahre Jüngere sich um seine Frau kümmern sollte, die ihrerseits über eine dicke Krankenakte verfügte – vollgestopft mit allerlei üblichen und unüblichen chronischen Leiden. Für sie selbst kam ein Altenheim dennoch nicht in Frage. Frau B. hatte ihr gesamtes Leben in unserem Haus verbracht. Sie kannte noch den Großvater unseres Vermieters, hatte während einiger Bombenalarme im 2. Weltkrieg in unserem Keller auf dem Töpfchen gesessen. Ihre Eltern, zwei Ehemänner und ein Sohn hatten hier mit ihr gelebt. Niemals hätte sie freiwillig dieses Haus verlassen. So kam es, dass wir ab dem Zeitpunkt des Unfalls näher zusammenrückten – Frau B., Panini und ich. Gemeinsam bewältigten wir allerlei bürokratische Hürden, mehrere Krankenhausaufenthalte von Frau B., eine Gürtelrose, die Beantragung eines Pflegedienstes, Impfungen im Impfzentrum und den Alltag in der Pandemie, die für Frau B.s zarte Gesundheit eine beständige Bedrohung darstellte. Das Tier erledigte seine Aufgabe in der Altenpflege mit Freude und Geduld, wenn auch nicht unentgeltlich. Bei jedem Besuch nahm es die drei zuvor vereinbarten Käsewürfel entgegen, um, nachdem es in der Wohnung nach dem Rechten gesehen hatte, zu unseren Füßen unseren mäßig aufregenden Gesprächen über das Wetter, die Abwesenheit verschiedener Nachbarn, den Hund der Friseurin oder die Eigenarten der Pflegerinnen zu lauschen. Es störte sie auch kaum, dass ich dabei brüllte, was wegen Frau B.s Schwerhörigkeit trotz Hörgerät nötig wurde. Panini brachte Freude in die intensiv nach Lufterfrischer riechende, blitzsauber geputzte Wohnung von Frau B.. Sie sorgte für Ablenkung und stärkte mir zugleich den Rücken, wenn ich selbst eigentlich mit dem Kopf woanders war.
Mit der Zeit pflegten wir einige Rituale, die über Paninis drei Käsewürfel hinaus gingen. Frau B. hatte viel Humor und war für Unfug zu haben. Sie versuchte mir regelmäßig Trinkgeld fürs Einkaufen zu geben, was ich ablehnte. In der Folge entstand ein kleiner, alberner Kampf, bei dem sie mir Münzen in Kapuzen, Taschen oder Rucksäcke werfen wollte. Ich kaufte meist dasselbe und saß immer auf demselben Stuhl im kleinen Zimmer. Wenn ich mit Panini auf dem Arm durchs Treppenhaus ging, zappelte sie vor der Wohnungstür der Nachbarin, damit wir einen Stopp einlegen und sie eine Stärkung mit den geliebten Molkereiprodukten einnehmen konnte. Es fühlte sich an, als würde es ewig so weiter gehen, aber das tut es im Leben oft – bis es plötzlich nicht mehr so weiter geht.
Frau B.s Gesundheit verschlechterte sich. Ein ums andere Mal verließ sie die Kraft in den Beinen und sie stürzte. Ihre ohnehin recht störrische Diabetes schien außer Rand und Band. Käsewürfel reichte sie nur mit zitternden Fingern und am liebsten im Sitzen. Eines Tages schien die Lage so bedrohlich, dass ich den Notarzt rief. Die Herbeigeeilten untersuchten die dünne alte Dame und packten sie umgehend ein. Ich wusste, wo die Kliniktasche stand. Frau B. war vorbereitet. Besuche durfte sie im Krankenhaus coronabedingt nicht empfangen, aber sie ließ mir Wunschlisten ausrichten und ich konnte Taschen in die Klinik bringen. Ich verstaute darin auch ein Foto von Panini – mit besten Genesungsgrüßen. Täglich hielt ich Herrn B. telefonisch auf dem Laufenden, der sich sorgte, auch wenn er nicht alles überblickte. Nach 10 Tagen kam Frau B. nach Hause. „Sie macht schon wieder Sprüche!“ hatte die Krankenschwester mir am Telefon gesagt. Doch die Nachbarin war nicht mehr dieselbe. Alle Lebenskraft war aus ihr gewichen. Sie hatte weiter an Gewicht verloren und fühlte sich nur noch im Bett halbwegs wohl und sicher. Panini schien die Lage irritierend zu finden, nahm aber ihren geliebten Käse gern auch im Schlafzimmer entgegen. Als eine Vollzeitpflege organisiert war, akzeptierte sie selbstverständlich auch die Pflegerin als Käsespender.
Doch die folgenden Wochen gestalteten sich aus vielen Gründen für alle aufreibend und schwierig. „Sie wird bald sterben“, sagte ich eines Abends zu Panini. Das Tier sah mich mit großen Augen an. Gut, dass sie es nicht versteht, dachte ich und wir gingen schlafen. Am nächsten Tag rief ich einen Palliativdienst an. Frau B. hatte eine schwere Zeit, auch nachts. Man konnte es hören. Panini kam nun jede Nacht zu mir ins Bett, was sie zuvor lange nicht gemacht hatte. Einmal brachte ich Panini ganz nah zu Frau B. , wie schon öfter zuvor. Ich hob sie hoch, damit die alte Dame sie sehen konnte. Frau B. fehlte die Kraft zum Lächeln, aber ich sah, was es bedeutet, wenn sich jemandes Miene erhellt. Mit innerer Freude nahm sie den Hund wahr. Ich setzte Panini ab und sie ging aus dem Schlafzimmer. Als ich die Wohnung verlassen wollte, fand ich das Brötchen in einem abgelegenen Winkel des Wohnzimmers. Dort lag sie sonst nie. Sie sah mich an wie ein angeschossenes Reh.
Von diesem Moment an gab es kein Zappeln auf dem Arm mehr. Nie mehr. Keinen gedrehten Kopf, wenn wir an der Wohnungstür vorbeigingen. Es war, als wären wir nie in der Nachbarswohnung gewesen, als habe es dort nie Käsewürfel gegeben. Zwei Tage nach der letzten Begegnung mit Panini starb Frau B.. In ihrem Zuhause, wie sie es sich gewünscht hatte. Panini hatte es längst vorher gerochen, gewusst und verstanden. Und mehr noch – sie wollte unter diesen Umständen keine Leckereien mehr in der Wohnung von Frau B.. Nicht von der Pflegerin, nicht von mir. Dass mein über die Maßen verfressener Hund die Lage in seinem kleinen plüschigen Kopf so ordnet, hätte ich niemals für möglich gehalten. „Das ist ein hellsichtiger Hund“, sagte mir eine Tierheilpraktikerin vor einigen Jahren. „Der versteht alles.“ Vielleicht ist das genau so.
3 Kommentare
Wie traurig und doch auch schön. Das hört man oft, dass Tiere wissen, wann Menschen sterben. Leider musste unsere Flora vor uns gehen. Sie war fast 12 (und 10 Jahre bei uns), portugiesische Podenca aus Spanien gerettet/vermittelt. Ihre Schmerzen in Rücken, Nacken und Beinen waren weder mit Schmerzmitteln, noch Cortison oder Physiotherapie einzudämmen, da haben wir sie beim Tierarzt erlösen lassen. Sie ist ganz schnell in unsern Armen eingeschlafen. Wir haben sie im Garten begraben. Aber sie ist immer noch überall in der Wohnung anwesend …
Ach Heidi, wie wunderbar, dass Panini und du Frau B.s Leben ein wenig lebenswerter gemacht habt, für sie da wart. Meine Mutter lebt Gott sei Dank noch, in ihrem Haus, das sie nur „mit den Füssen voran“ verlassen will. Und das sie über 600 Kilometer von Zia trennt, dem Lebewesen trennt, das noch als einziges uneingeschränkt vermag, sie zu einem Lächeln zu bewegen. Und weil nur Zia diese Fähigkeit besitzt, steht neben dem Sofa meiner Mutter seit Weihnachten ein digitaler Bilderrahmen, auf den wir ihr jeden Tag aktuelle Bilder von unserer Chaosrakete schicken. Meine Mutter hat für Zia das „Liken“ gelernt und lässt uns mit einem Herz-Kommentar jedes Mal wissen, dass Zias Magie immer noch wirkt.
Liebe Heidi,
ganz viel Kraft.
Schön, dass Du Dich so lieb gekümmert hast und mit Panini ein bißchen Sonne in den Alltag Deiner Freundin von nebenan gebracht hast…
Ich weiß wie das so sein kann, mit dem Tod, dem feinen Gespür und all dem anderen das zwischen Deinen traurigen und wundervoll wertschätzend-formulierten Zeilen steht.
Fühl Dich gedrückt!
LG Danni