Draußen Drinnen

Das Kleinchen

3. Oktober 2024

Bevor ich von den beeindruckenden Hunden in Italien berichten kann, muss ich von einer heimlichen Liebe erzählen, einem Hund, der in den letzten Tagen immer wieder hier zu Gast war. Ich kenne das Kleinchen bereits seit 10 Jahren, es wohnt in der Nachbarschaft bei einer alten Dame. Wer Kommstdu hierher verfolgt weiß, dass ich die Verbindung „Hund – älterer Mensch“ grundsätzlich für eine glückliche und wertvolle halte. Doch wie in Italien muss ich mir auch hier eingestehen, dass viele Dinge nun mal nicht optimal sind. Und dass man selbst nichts daran ändern kann.

Das Kleinchen ist ein Malteser. Glaube ich zumindest. Ich konnte Malteser, Havaneser und Bologneser, die weißen Wattebäuschchen mit den Knopfaugen, nie wirklich voneinander unterscheiden. Wie ihr Frauchen mir berichtete, stammt sie aus Polen, das habe man aber beim Kauf gar nicht so gewusst. Vor über 10 Jahren konnte man als älterer Mensch ohne Internet sicher besonders leicht in die Falle fragwürdiger Händler tappen. Die Dame hatte schon mehrere Hunde in ihrem Leben gehabt und traute sich das Kleinchen auch mit fast 80 Jahren noch zu. Tatsächlich war sie damals außergewöhnlich aktiv, man konnte sie deutlich jünger schätzen. Und der Hund war wahrlich unwiderstehlich: Fröhlich, neugierig, lustig, ein bisschen stur und immer an Menschen interessiert, die ihr den Bauch kraulen. Selbst mit Panini an der Leine habe ich mich unzählige Male gebückt (und man muss da sehr tief runter), um dem liebreizenden Hundemädchen den Gefallen zu tun.

In den letzten Jahren bemerkte ich immer mehr, dass die Beziehung von Frauchen und Hund nicht ungetrübt war. Dafür habe ich großes Verständnis, auch das Brötchen und ich hatten so unsere Meinungsverschiedenheiten und als sie alt und manchmal wunderlich wurde, fehlte es mir gelegentlich an der notwendigen Geduld. Aber bei diesen beiden schien es doch nochmal anders zu sein. Das Kleinchen weigerte sich, spazieren zu gehen und entwickelte allerlei enervierende Marotten. Sie begann, obsessiv an einer Pfote zu lecken, der Tierarzt fand keine Ursache. Wer abends durchs Viertel ging, konnte die alte Dame fluchen und schimpfen hören, weil der Hund sich wieder einmal verweigerte. Ich hatte Mitleid mit beiden, schließlich hatten sie eine lange Zeit miteinander verbracht und hingen sicherlich aneinander. Aber der Gassisegen hing schief. Und nicht nur der: Eines Tages traf ich Frauchen mit einer verbundenen Hand. „Sie hat mich gebissen!“ erzählte sie mit einer Mischung aus Ärger und Enttäuschung. Immer wieder habe es Situationen gegeben, in denen der Hund mit Schnappen und Beißen reagiert habe. Nun würde man gleichgesinnten Hundemenschen in einer vergleichbaren Situation eine gute Hundeschule empfehlen, jemand die oder der nach Hause kommt und sich die Sache mal ansieht. Man würde zu einem Tierarztbesuch raten, um möglicherweise versteckte Schmerzen abzuklären. Es würde nicht einmal zu der Empfehlung kommen müssen, da die Betroffenen bereits selbst draufgekommen wären. Aber es gibt eine Generation von Hundehaltern, die solche Maßnahmen für überflüssig, ja geradezu abwegig hält, vermutlich zumindest in der Mehrzahl. In diesem Fall stehen sich also Hund und Frauchen an Sturheit in nichts nach.

Wenige Wochen nachdem Panini gestorben war, traf ich die alte Dame beim Gassigehen. Sie war verzweifelt. Ihre Angehörigen würden sich künftig weigern, den Hund zu nehmen, wenn sie ins Krankenhaus käme. Sie hatte bereits einige gesundheitliche Probleme in der jüngeren Vergangenheit und es könne sein, dass sie noch einmal stationär aufgenommen werden müsste (Anmerkung an dieser Stelle: Das kann IMMER sein, auch bei jüngeren Menschen). Sie hatte große Angst, dass der Hund ins Tierheim kommen müsste. Derweil warf sich das Kleinchen auf den Rücken und streckte mir den Bauch hin. Das blieb nicht folgenlos. In einer mich überwältigenden Mischung aus Trauer um meinen eigenen Hund und Sorge um diesen hier, sagte ich: Wenn alle Stricke reißen, rufen Sie mich an. Einige Wochen später tauschten wir Nummern aus. Dann passierte erst einmal nichts. Im April trat Amy, das Besuchstier, in mein Leben und ich war zuversichtlich, dass das Kleinchen-Frauchen eine andere Lösung gefunden hatte.

Und dann, nach meiner Italien-Reise, kam es doch zu dem befürchteten Notfall. Der alten Dame ging es nach einem Sturz schlecht und sie konnte sich nicht zugleich um sich selbst und um den Hund kümmern. So landete der kleine weiße Fussel für ein paar Tage bei mir. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie klein dieser Hund war. Sie schien mir ungeheuer zerbrechlich zu sein. In Italien hatte ich mit Hunden mit einer Schulterhöhe von 55 cm ++ zu tun und der Kontrast war enorm. Mit ihr an der Leine hatte ich immer Sorge, jemand könnte sie übersehen, sie treten oder ihr mit dem Fahrrad über die ausladende Fahne an ihrer Rute fahren. Und ich konnte mir vorstellen, wie anstrengend es sein muss, wenn alles größer ist als man selbst. Wenn sich Riesen über einen beugen und einen plötzlich vom Boden abheben. Wenn einen andere Hunde nicht ernst nehmen.

In der Wohnung war der Hund unkompliziert. Sie fand sich sofort ein und wechselte zwischen den verschiedenen Liegeflächen hin und her. Ihr Fell war sehr dünn und wirkte grau und glanzlos. Wenn sie in ihrem Bettchen schlief, sah sie manchmal aus wie ein kleiner Wischmopp. Sie fraß wie ein Rotkehlchen, langsam und jedes einzelne Körnchen sorgfältig auswählend. Frauchen hatte immer berichtet, dass das Tier eine schlechte Esserin sei, dass man Fleisch abkochen müsse, sie Gemüse und alles andere verweigere. Nur Frolic, manchmal auch anderes Trockenfutter und Fleischstängchen würde sie sonst noch essen. In der Konsequenz aß das Tier viel Fleisch, etwas Abfall mit Zucker in Ringform und ein paar Körnchen halbwegs gutes Trockenfutter. Ihr Output sah in Ermangelung von Ballaststoffen aus wie ein Regenwurm, das Kackerlsackerl kam mir geradezu verschwendet vor. Ich befürchtete, dass mit ihren Zähnchen etwas nicht stimmt, was sicherlich weder den Appetit noch die Laune fördert. Auch begann das Kleinchen bei mir recht viel zu trinken, was dazu führte, dass sie mir mehrfach hemmungslos in die Wohnung pieselte. Später stellte sich heraus, dass sie das Zuhause auf einer bestimmten entsprechend präparierten Stelle auch durfte. In meiner inneren Liste für einen möglichen Tierarztbesuch addierte ich zu den Stichworten: „Zahnreinigen und Dentalröntgen“ „Geriatrisches Blutbild, vor allem Nierenwerte“. Schnell kamen noch „Abklären einer 3,5 cm großen Beule am Bauch“ sowie „After und Analdrüsen“ hinzu. „Management des Pfotenleckens ggf. Abklären von Hefepilzen o.ä.“ stand ohnehin schon drauf.

Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass das Putzlümpchen einige Ängste hatte und dass Schnappen für sie eine gewohnte Strategie war. Sie hatte Angst, vom Arm abzustürzen, wenn man sie trug, was auf der Treppe sein musste. Sie hatte große Angst, wenn wir an einem Haus vorbeigingen, in dem früher ein Hundefriseur war. Sie wehrte sich, wenn man ihr einen Mantel anzog, den sie bei ihrer Fellbeschaffenheit jetzt schon brauchte. An einem Tag lernte ich außerdem noch weitere Facetten ihrer Wehrhaftigkeit kennen. Wir gingen spazieren und sie trat im Laub ausgerechnet in eine sterbende Wespe, die in ihrem Füßchen stecken blieb. Ich wollte sie entfernen, was mir nicht gelang, dem Hund aber weh tat. Verständlicherweise schnappte sie. Ich trug sie nach Hause und wollte dort mit Pinzette und Desinfektionsmittel zu Werke gehen, es war jedoch nicht dran zu denken. Der Hund war außer sich. Sie löste das Problem dann tapfer selbst. Als ich sie nach einer Weile streicheln wollte, schnappte sie sofort um sich. Ich machte mir Sorgen. Wie würde unsere gemeinsame Zeit verlaufen, wenn ich sie fortan nicht mehr würde anfassen können? Ich ließ das Kleinchen in Ruhe und hoffte, sie würde sich beruhigen. Nach anderthalb Stunden stand es schwanzwedelnd in der Tür. „Und“, sagte ich, „sind wir wieder gut miteinander?“ Sie kam zu mir und drückte sich an mein Bein. Danach war sie anhänglicher als zuvor und schnappte nie wieder nach mir. Als hätte sie über alles noch einmal gründlich nachgedacht. Durch gutes Pipi-Management hat sich auch das „In die Wohnung pinkeln“ eingestellt. Und sie krallte sich nicht mehr so panisch in meinen Arm, wenn ich sie hochhob. Im Rahmen des Möglichen verstand ich sie jetzt und sie verstand mich.

Das Lümpchen schlief im Bett und begrüßte mich morgens mit Hundeküssen ihrer kleinen rosafarbenen Zunge. Drei Nächte war sie bei mir, zum ersten Mal seit Paninis Tod hat ein Hund bei mir übernachtet. Eine emotionale Sache. Noch emotionaler war es, sie wieder zuhause abzuliefern und zu wissen, dass die Notwendigkeit eines Tierarztbesuchs nicht gesehen wird, trotz aller Argumente. Zu wissen, dass der Hund trotz all der Liebe, die ihm zuteil wird, nicht das bekommt was er braucht. Zu sehen, dass er gar keine Neigung hatte, nach Hause zu gehen. Eine Institution, eine Einrichtung, einen Verein müsste es geben, der sich um Mensch UND Hund kümmert. Eine Infrastruktur für ältere Menschen und ihre Tiere, denn oft genug brauchen beide Hilfe. Ich kann für das Kleinchen, das mein Herz schon immer berührt hat, nur sehr wenig tun. Das Einzige, was ich hoffen und wünschen kann, ist, dass sich die Angehörigen seiner doch in Liebe annehmen, sollte es eines Tages nicht mehr zuhause bleiben können.

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8 Kommentare

  • Antworten Marie D. 6. Oktober 2024 um 8:18

    Liebe Heidi!
    Ihr Beitrag zum Kleinchen macht mich doch sehr betroffen und ratlos….und leider muss man befürchten, dass er auf viele (ältere?) Menschen und Hunde (insbesondere in der Stadt?) zutrifft.

    Falls sich aus Ihrer Beobachtung und Ihrer Idee etwas ergeben sollte, würde ich mich gerne beteiligen: organisatorisch, zeitweilige Betreuung eines Hundes, finanziell (wohne im Nordend).
    Gruß Marie

    • Antworten Heidi 6. Oktober 2024 um 9:49

      Liebe Marie,
      tatsächlich kann ich Unterstützung gebrauchen. Ich suche jemanden, der das Kleinchen kurzfristig aufnehmen kann, aber auch perspektivisch eine Option wäre, wenn die alte Dame den Hund eines Tages nicht mehr betreuen kann. Eine fitte Rentnerin mit viel Liebe und Verständnis wäre perfekt. Die Angehörigen fallen aus. Aktuell habe ich sie bei mir, ihr Frauchen ist im Krankenhaus. Ich komme gut mit ihr und ihren Marotten zurecht. Sie bleibt problemlos allein und ist lieb. Ein weiterer Hund könnte ein Problem sein, weil sie beim Spazierengehen sehr trödelt und auch manchmal keine Lust hat. Wenn Ihnen jemand einfällt – ich grüble auch. Vielen Dank und Grüße in die Nachbarschaft!

  • Antworten Martina 9. Oktober 2024 um 6:18

    Hier in der deutschsprachigen Schweiz gibt es die von dir vermisste Organisation. Sie unterstützt alte Menschen tatkräftig und finanziell darin, ihre Tiere bedürfnisgerecht zu halten. Versterben Halterin oder Halter, und das Tier findet keinen Platz bei Verwandten oder Freunden, dann kümmert sich die Organisation um einen Pflegeplatz und die Vermittlung in ein neues Zuhause.
    Eine wunderbare Hilfe für Mensch und Tier.

    • Antworten Elli 10. Oktober 2024 um 11:07

      Doch, liebe Heidi und Martina. So etws gibt es auch in Deutschland – momentan noch überwiegend im Süddeutschen Raum.
      Es sind die „SilberPfoten, für Senioren und ihre Tiere“ mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen. Eine großartige Idee:
      https://silberpfoten.de/
      Liebe Grüße von Elli & Hope

      • Antworten Heidi 10. Oktober 2024 um 11:22

        Oh, wie toll ist das! Genau das habe ich gemeint. Mein Traum wäre zusätzlich noch eine Vernetzung mit einer örtlichen Sozialstation, damit auch Herrchen und Frauchen die nötige Aufmerksamkeit bekommen. Das bitte deutschlandweit. Das wärs. Danke für den Hinweis, liebe Elli!

      • Antworten Alexandra 16. Oktober 2024 um 13:59

        Genau das wollte ich auch Kommentieren. Wenn man sich als Helfer einträgt, finden ich bestimmt auch im Raum Frankfurt mehr als genug Hunde. 😔

  • Antworten Sonja Bruenzels 20. Oktober 2024 um 11:56

    Auch junge und mittelalte Leute gibt es massenhaft, die ihre Hunde zwar „lieben“, aber nicht die Verantwortung übernehmen. Und trotzdem der Meinung sind, sie machten alles gut mit dem Hund. Das ist leider keine Domäne tüddeliger und unbelehrbarer älterer Damen u. Herren mit „Hundebildung“ von anno dunnemals. Ich hoffe, es findet sich eine Lösung für Kleinchen. Danke, dass du dich kümmerst.

    • Antworten Heidi 20. Oktober 2024 um 13:34

      Da hast du bestimmt recht. Nicht umsonst gibt es so viele übergewichtige Hunde, solche, die ewig allein bleiben müssen oder mit fragwürdigen Erziehungsmethoden traktiert werden. Und trotzdem hat es bei den älteren Herrschaften eine besondere Tragik. Manchmal war ja auch die Pflege des Hundes früher gut und wird erst im höheren Alter schlechter, weil die Leute tüddelig werden und nicht mehr gut sehen.

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