Draußen

Die Frau hinter der Hecke

22. Oktober 2025
Eine Frau geht hinter einer Hecke entlang

Hinter der Hecke geht eine Frau. Es könnte auch ein Mann sein, doch mein über viele Jahrzehnte geübter und durch tägliche Begegnungen mit zahlreichen Frauen wie Männern geschärfter Blick sagt mir, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Frau handelt. Und das, obwohl ich nur ihren Kopf und ihre Schultern sehen kann. Die Kirschlorbeerhecke, hinter der sie geht, ist ebenso scheußlich wie dicht. Für das Auge gibt es hier kein Durchkommen. Und genau das ist das Problem. Ich weiß nämlich nicht, ob die Frau einen Hund mit sich führt (oder auch umgekehrt). Dabei wäre es günstig, das zu wissen, denn sie wird in wenigen Sekunden unseren Weg kreuzen. Und damit wird ein möglicher Hund direkt in Amy hineinlaufen.

Das Besuchstier ist beschäftigt, schnüffelt hier und dort, während ich versuche, wie ein erfahrener Personenschützer die Lage zu eruieren. Ich bin äußerst konzentriert und starre in Richtung Heckenfrau. Da – hat sie nicht eben nach unten geschaut? Es könnte ein Kontrollblick auf den Hund gewesen sein. Vielleicht liegt aber auch nur ein besonders malerisches Herbstblatt am Boden. Die Frau sieht aus, als wäre sie empfänglich für Herbstblätter. Der Stil von Frauen hinter Hecken gibt zumindest Aufschluss über die Art und Größe des zu erwartenden Hundes. Handelt es sich etwa um eine zu verspielten Modeinsignien neigende Dame, die der Off-Sprecher in RTL 2 als „junggeblieben“ kategorisieren würde, also pinkfarbene Haarspangen, Pailletten-Bilder auf Motivshirts und Animal-Print, dann würde voraussichtlich ein eher kleiner Hund um die Ecke biegen. Zum Beispiel ein kleiner weißer Malteser. Den würde Amy dann möglicherweise ohne weitere Umstände verspeisen wollen. Nicht gut. Es könnte sich aber auch um einen kleinen braunen Dackel handeln, das würde Amys Appetit erheblich mindern. Schon etwas besser. Ginge hinter der Hecke aber etwa eine Frau im Camouflage-Look mit asymmetrisch rasierter Frisur und Nasenpiercing, wäre mit einem eher großen Hund zu rechnen. Möglicherweise mit einem, der seinerseits gern hellbraune, tapsige Hundemädchen mit lustigen Ohren frisst. Auch nicht gut. Die Frau hinter der Hecke fällt in keine der beiden Kategorien. Ich bin also keinen Schritt weiter.

Wenn man Glück hat, sieht man Frauen, bevor sie hinter Hecken verschwinden. Auch falls dann der Hund bereits durch dichtes Grün verdeckt sein sollte, kann man so noch einen Blick auf die Leine werfen. Flexileine im steilen Winkel – kleiner Hund; breite Leine, beinahe waagerecht – außerordentlich großer Hund. Und überhaupt kann man wenigstens Gewissheit erlangen, dass an der Frau ein Hund hängt, oder doch zumindest irgendein Tier. Die aktuelle Frau hinter der Hecke hat jetzt schon wieder nach unten geschaut. Meine ich. Sie könnte ja auch ein Kind bei sich haben. Ein kleines. Kinder frisst Amy eigentlich nicht. Das wäre also gut. Es sei denn, die Frau kann Hunde nicht leiden und hält Amys pure Existenz für einen Affront. Dann droht ein typischer Heckenkonflikt. Denn nicht nur ich kann nicht sehen, was dahinter los ist, für die Frau ist es genauso. Sie könnte sich also vor dem plötzlich auftauchenden Hund erschrecken. Vielleicht hat sie ja Angst vor Hunden. Hier ist alles möglich. In der Fahrschule lernt man „vorausschauendes Fahren“, von „vorausschauendem Gassi“ sagt einem keiner was. Ich versuche, das Besuchstier etwas zu bremsen. Vielleicht kann ich ja mehr Raum zwischen uns und die Frau und den Hund oder das Kind oder das Nichts neben der Frau bringen. Amy findet das blöd. Sie hat beschlossen, dass es jetzt Zeit ist, weniger zu schnüffeln und mehr zu gehen. Mit dem Blick einer Geschäftsfrau auf dem Weg zum Flughafen-Gate strebt sie vorwärts. Offenbar hat sie wichtige Dinge zu erledigen. Vielleicht will auch sie endlich wissen, wer oder was hinter dieser Hecke ist. Ich halte die Leine fest und kurz und versuche, die Geschwindigkeit so zu gestalten, dass wir nicht gerade unmittelbar aufeinandertreffen.

Ich könnte vielleicht „Ist Ihrer lieb?“ hinter die Hecke rufen. So sprach mich neulich eine Frau (ohne Hund) an der Ampel an: „Ist Ihrer lieb?“ Nun ist Amy nicht meine und auch kein „Er“, aber lieb ist sie zweifelsohne. Ich wollte hier jedoch nicht zu tief in Konversationen eintauchen und sagte einfach ja. Aber angenommen, die Frau hinter der Hecke hätte gar keinen Hund dabei. Dann wäre „Ist Ihrer lieb?“ ja doch mindestens missverständlich. Die Frau könnte verärgert reagieren, oder schlimmer noch: wahrheitsgemäß antworten. Nein, das ist keine gute Option. Ich starre auf die Schultern der Frau. Eine ist etwas zurückgenommen, möglicherweise hat sie einen alten, langsamen Hund bei sich. Das wäre gut, Amy schreddert keine alten Hunde. Da, jetzt hat die Frau zurück und nach unten geschaut! Ganz bestimmt. Die Frau blickt auf und scheint mich jetzt erst richtig wahrzunehmen. Wir sind nur noch wenige Meter voneinander entfernt. Ganz kurz bevor wir uns begegnen, bleibt sie stehen. Amy, sei ein feines Mädchen, sage ich beschwörend. Aber das Besuchstier scheint nur an die Börsenkurse zu denken und strebt weiter nach vorne. Das ist gar nicht schlecht, denke ich, dann ist sie ja geschäftlich verhindert und hat an einer privaten Gassenschlägerei kein Interesse. Und dann passiert es: Wir gehen an der Frau hinter der Hecke vorbei. Ich schaue zu ihren Füßen und sehe, dass sie einen kleinen Hackenporsche hinter sich herzieht, also einen Einkaufstrolley. Kein Hund weit und breit. Das hast du toll gemacht Amy, sage ich und gebe ihr einen sinnlosen Keks. Amy findet, dass sie eigentlich alles toll macht und ein Keks ab und an deshalb in jedem Fall gerechtfertigt ist. Und das stimmt ja irgendwie auch.

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