Draußen Drinnen

Die Deutschen lieben Hunde – und vernachlässigen Kinder.

19. Mai 2019

Im Jahr 2007 lassen Nicole G. und Stefan T. ihre fünf Jahre alte Tochter verhungern. Ihren beiden Hunden geht es prächtig. 2010 vernachlässigt Jessica K. ihre neun Monate alte Tochter so sehr, dass sie stirbt. „Mit ihren Tieren ging sie zum Tierarzt“, schreibt die Zeitung mit den vier Buchstaben. Im gleichen Jahr lässt Birgit W. ihre knapp drei Jahre alte Tochter an Unterernährung sterben. Die WELT konstatiert, dass der im Haushalt lebende Hund gut versorgt war: „Der Fressnapf war gut gefüllt“.

Begeisterte Leser von „Vermischtes“ in den Tageszeitungen ziehen aus solchen und ähnlich spektakulären Fällen ihre glasklaren Schlüsse. Die Schlussfolgerung lautet nicht etwa, dass in der Regel eine Fülle von Pannen und Fehlern dazu führen, dass die Misshandlungen der Kinder keine Behörde stutzig machen. Auch nicht, dass hier psychisch kranke Menschen ihre eigenen Traumatisierungen und Störungen naheliegenderweise auf ihre Kinder übertragen und nicht auf ihre Haustiere. Nein, die Conclusio aus diesen Fällen lautet: Unsere Gesellschaft ist krank. Während Hunde verhätschelt werden, sterben Kinder.

Dass es da einen unmittelbaren Zusammenhang gibt, lehrt uns zum Beispiel der WDR. In einem (inzwischen gelöschten) Beitrag aus dem Jahr 2018 werden die jährlichen Ausgaben für Hundebedarf mit denen von Babynahrung verglichen – der Hundebedarf ist natürlich der Gewinner. Das Narrativ: Die Deutschen lieben ihre Hunde – ihre Kinder kommen dagegen erst an zweiter Stelle. Wenn überhaupt. Ich habe keine Studie gefunden, die diesen Unsinn untermauern würde, aber zäh kriecht die schleimige Geschichte mit der Zeit in die Köpfe. Im April 2019 berichtet der SPIEGEL über Spielzeugflut in Kinderzimmern und den Überdruss der beschenkten Kinder. Bereits Kinder zwischen 18 und 30 Monaten besitzen im Schnitt mehr als 90 Spielzeuge. Ostern ist das neue Weihnachten, hier werden zunehmend vergleichbar große Geschenkberge aufgefahren. Aber Moment, was erzähle ich da – das passt ja gar nicht zum Narrativ der verhätschelten Hunde und vernachlässigten Kinder!

Beiträge wie Luxus pur für reiche Hunde oder Dokus wie „Hunde in Deutschland: Wahnsinn oder Liebe“ legen den Gedanken nahe, dass wir sie nicht mehr alle am Sträußchen haben, weil wir unseren Hunden neckische Kleidchen anziehen und ohne Swarovski-Perlenhalsband gar nichts mehr geht. Wie dekadent! Wie krank! Und woanders verhungern Kinder!

Ich möchte dieses seltsame Boulevard-Narrativ gern als das entlarven, was es ist: Clickbaiting und grober Unfug. Vielleicht deshalb ein paar Fakten.

  • Es gibt rund sieben Millionen Hunde in Deutschland. Manche ihrer Besitzer sind arm, manche reich. Manche kümmern sich herzlich wenig um ihre Tiere, manche helikoptern wie verrückt. Diese Eigenschaften sind unabhängig vom Budget.
  • Hundehalter sind neurotisch oder nicht. Psychopathisch oder nicht. Überängstlich oder nicht. Überkandidelt oder nicht. Die Nicht-Neurotischen, Nicht-Psychopathischen, Nicht-Überängstlichen, Nicht-Überkandidelten sind deutlich in der Überzahl. Mit ihnen lassen sich aber keine Schlagzeilen machen, sie sind für Dokus nicht geeignet.
  • Manche Hundehalter haben Kinder, andere nicht. Von spektakulären Einzelfällen abgesehen sind Kinderteller und Hundenapf gleichermaßen gefüllt.
  • Wo immer es um Lebewesen und Beziehungen geht, sind Emotionen im Spiel. Und wo Emotionen sind, ist der Marketingdruck außergewöhnlich hoch – hier gibt es Geld zu verdienen. Beim Hundebedarf wird ebenso wie im Bereich von Spielzeug, Kindermöbeln, -Nahrungsmitteln etc. mit massivem Marketingdruck versucht, einen Bedarf zu schaffen, den es zuvor nicht gab.
  • Im urbanen Raum sind die Anforderungen an Hunde enorm. Im engen Zusammenleben ist es wichtig, dass Hunde gut erzogen sind. Die Städte füllen sich mit Menschen und Tieren. Das eröffnet Hundeschulen neue Marktchancen, die es früher und auf dem Land nicht gab.
  • Medizintechnik und Forschung entwickeln sich weiter. Das gilt für Mensch und Tier gleichermaßen. Dementsprechend gibt es neue Behandlungsmöglichkeiten für erkrankte Hunde. Auch das führt zu neuen Marktchancen für Tiermediziner und -therapeuten.
  • Immer mehr Menschen leben allein. Immer mehr von ihnen sind – oft auch altersbedingt – ohne Anbindung an Familie, Kollegen- oder Freundeskreis. Hunde besetzen hier leere Plätze.
  • Das alles deutet nicht auf eine kranke, dekadente Gesellschaft hin, sondern auf eine Entwicklung mit vielen Faktoren unserer modernen Welt.

Darüber hinaus ist es auffällig, dass die Verbindung zu Kindern immer nur dann hergestellt wird, wenn es um Hunde geht. Nirgendwo werden die Ausgaben für SUVs, Fernreisen, Designersofas, Unterhaltungselektronik, Mode, Handtaschen oder Immobilien den Ausgaben für Babynahrung gegenübergestellt. Diese Ausgaben werden häufig bewundernd zur Kenntnis genommen, schließlich sind sie ein Symbol dafür, „es geschafft“ zu haben. Niemand sagt: “Das hättest Du mal besser für arme und hungernde Kinder ausgegeben!” Wer seinem Hund jedoch ein Designersofa kauft, hat es nicht etwa geschafft, sondern wird ausgelacht. Dazu würde ich gern festhalten: Es geht niemanden etwas an, wofür jemand sein Geld ausgibt, solange dabei niemand zu Schaden kommt. Für seinen moralischen Kompass ist jeder selbst verantwortlich. Es ist nicht im Mindesten komischer, seinem Hund ein handgearbeitetes Samtkissen zu kaufen als sich selbst. Der Hund braucht es nicht – man selbst aber auch nicht. Und beide Fälle haben absolut nichts mit der Vernachlässigung von Kindern zu tun.

Titelbild ©Kai-Chieh Chan – pexels.com

 

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7 Comments

  • Reply Socke-nHalterin 19. Mai 2019 at 20:44

    Soll ich meinen Hund vernachlässigen, weil Kinder in Deutschland vernachlässigt werden? Das nützt den Kindern auch nichts….

    Meine Liebe zu Socke, ihre (ärztliche) Versorgung und ihr Verwöhnen schafft Arbeitsplätze und fördert das Bruttosozialprodukt. Socke hält mich gesund und hilft so meiner Krankenkasse. Und ich engariere mich ehrenamtlich für Tiere. Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen. Mögen sich andere für Kinder einsetzen, die mehr Ahnung und Beug zu den Themen haben.

    Viele liebe Grüße
    Sabine mit Socke

  • Reply Esther 20. Mai 2019 at 9:09

    Danke, liebe Heidi, für diesen absolut tollen Blogartikel! Einmal mehr ins Schwarze getroffen!

  • Reply The Pell-Mell Pack 24. Mai 2019 at 17:33

    Vielen Dank Heidi, für diese nüchterne Aufdröselung. Deinem Fazit kann ich nur von Herzen zustimmen: Solange keiner zu Schaden kommt, geht es keinen etwas an!
    Ich finde es traurig, dass “Artikel” dieser Art immer wieder funktionieren. Dem kann man nur so wunderbar überlegte echte Artikel wie deinen entgegensetzen.

    Herzliche Grüße
    Stephie

  • Reply Ina 25. Mai 2019 at 19:00

    Leider ist der Gedanke ja nicht neu, dass diejenigen, die einen “unnützen Esser” finanzieren, ihr Geld gefälligst lieber für Menschen ausgeben sollen. Deshalb gibt es ja die Hundesteuer, die uns Hundehalter zwangsweise dazu verdonnert, zusätzlich etwas für die Allgemeinheit abzudrücken. Da hat man dann schon gar keine Lust mehr, freiwillig etwas zu spenden.
    Was tut denn diese Allgemeinheit für uns als Hundehalter? Außer Leinenzwang und andere Diskriminierungen kann ich da nichts erkennen. Ich boykottiere auch nach Möglichkeit Geschäfte, in denen Hunde unerwünscht sind. Büchereien verkommen zu Spielplätzen und Krabbelecken, aber ein ruhiger Hund dar nicht mit hinein. Obst und Gemüse im Supermarkt wird von glitschigen Kinderhänden angefasst, aber Hunde stellen ein Hygieneproblem dar. Und deshalb finden es manche selbstverständlich, wenn der treue vierbeinige Freund wie ein Müllsack auf der Straße abgestellt und seinem Schicksal überlassen wird, während sie ansonsten noch nichtmal einen Kartoffelsack dort abstellen würden, geschweige denn ihren Kinderwagen, ohne sich wegen Gefährdung des Kindeswohls strafbar zu machen.
    Nö, Hunde haben leider nicht den Status von Kindern, aber meiner Meinung nach sollten sie das haben. Liebe ist Liebe und die Liebe zu einem Hund ist kein Stück weniger wert sein als die zu einem Kind!

  • Reply Sol 28. Mai 2019 at 1:53

    So ne Diskussion hatte ich auch schon öfters. Dann frage ich immer: “wenn wir keine Hunde hätten, ginge es den Kindern besser?
    Logisch denken hilft.
    Ein Wort noch zur Schreibweise der Überschrift:
    fast hätte ich den Artikel bewußt nicht gelesen, da mir nicht klar war, ob es Deine eigene Überzeugung ist.
    Hilfreich wären Anführungszeichen gewesen, um sofort zu kapieren, dass es ein Zitat ist.
    VG Sol

  • Reply Hanna 18. August 2019 at 19:45

    Ein sehr schöner Artikel, den ich direkt mal auf meiner Facebook-Seite geteilt habe. Vielen Dank dafür!

  • Reply Barbara Bögl 25. August 2019 at 13:12

    Danke, genau getroffen
    Ich habe in meinem Umfeld nie erlebt das Hund vor Kind kommt. Wir haben keine Kinder und verwöhnen unsere Maus sehr, na und, wir stehen dazu. Wir kaufen ihr aber keine Kleidchen, sie würde mich dafür hassen 😉
    Da sie gesundheitlich angeschlagen ist koche ich aber für sie, backe ihr Kekse, verbringe Stunden Im Internet um Alternativen zur Schuldmedizin zu suchen. Sie schläft bei uns im Bett und auf dem Sofa. Wir würden alles für Sie tun, das finde ich auch selbstverständlich, denn wenn man sich ein Tier ins Haus holt hat man eine Verantwortung.
    Wenn wir uns entschieden hätten Kinder zu bekommen, wäre es selbstverständlich das diese an erster Stelle stehen würden, so ist es aber der Hund. Sie hat es verdient, da gibt es überhaupt keine Diskussion.
    Aber eines stimmt, die Welt ist krank, das liegt aber nicht an Hundeliebhabern, das liegt daran das wir immer mehr wollen, uns für die Wichtigsten und einzigen zu halten. Es fehlt an Respekt, anderen Menschen gegenüber, Tieren gegenüber sowieso.

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